Daten für den Fortschritt
Wer effizient forschen will, muss Daten aus Forschung und Versorgung zusammenführen und miteinander verknüpfen. |transkript sprach mit Sebastian C. Semler, Geschäftsführer TMF e.V., über nötige Reformen, um die medizinische Forschung in Deutschland voranzubringen.
transkript. Herr Semler, was ist eigentlich der Unterschied zwischen in medizinischen Registern und Biobanken abgelegten Patientendaten?
Semler. In Biobanken werden Proben eingelagert, die im Rahmen von Studien und der Patientenbehandlung entnommen wurden. Mit diesen Proben werden die nötigsten Angaben zum Patienten und seinen Erkrankungen verknüpft. Für eine umfassendere Kopplung und Analyse braucht es jedoch den Zugriff auf zusätzliche Datenbanken, die eine größere Datentiefe aufweisen. Da wären wir dann bei den medizinischen Registern: In Registern werden Erkrankungsverläufe und Behandlungsdaten über einen langen Zeitraum detailliert und qualitätsgesichert nachverfolgt. Die Datensammlung ist aufwendig, aber die Informationstiefe ist groß, so dass eine sinnvolle Nachnutzung dieser Daten zu Forschungszwecken möglich ist.
transkript. In Skandinavien oder aber auch Großbritannien ist man bei der Digitalisierung medizinischer Daten schon weit fortgeschritten, wo steht Deutschland?
Semler. Großbritannien und Skandinavien unterscheiden sich in verschiedenen Aspekten von Deutschland. Großbritannien hat im Gegensatz zu Deutschland ein zentralisiertes Gesundheitssystem. Die Herausforderung verteilter Daten, also welche Patientendaten an welcher Stelle liegen, stellt sich dort nicht in so ausgeprägtem Maße. Auch gibt es politisch bessere Durchsetzungsmöglichkeiten für Digitalisierungsvorhaben, die sogar Vorgaben für die ärztliche Dokumentation einschließen.Die Skandinavier haben, ihrer soziokulturellen Tradition folgend, wesentlich umfassendere Datenbestände zu jedem Bürger aufgebaut, die verknüpfbar und auswertbar in staatlicher Kontrolle liegen. Neben einem etwas früheren Einstieg in die elektronische Patientenakte verfügen die Skandinavier über staatliche medizinische Register, in denen pseudonymisierte Informationen, etwa zur Geburt oder zu Todesursache, für jeden Bürger abgelegt werden. Durch einheitliche Identifikationsnummern können zudem unterschiedliche Datenbestände fallbezogen verknüpft und ausgewertet werden. All dies vereinfacht und beschleunigt klinische und epidemiologische Forschung sehr.
transkript. Wie steht es um die Einbeziehung der Industrie bei der Digitalisierung im deutschen Gesundheitswesen?
Semler. Die Steuerung und Betriebsaufgaben für Infrastrukturen mit sensiblen Patientendaten unterliegen richtigerweise staatlicher Kontrolle. Natürlich werden Unternehmen mit Teilaufgaben dabei beauftragt, sowohl bei Vorhaben in der Patientenversorgung und Telematik-Infrastruktur als auch beim Aufbau von Infrastrukturen für die medizinische Forschung. Eine Schwierigkeit besteht freilich beim Datenzugang für forschende Unternehmen, die für ihre Entwicklungen pseudonymisierte Patientendaten benötigen. Bei vielen gesetzlich geregelten Datenzugängen ist die Industrie ausgenommen. Bei den Daten der Medizininformatik-Initiative (MII) sind Unternehmen hingegen antragsberechtigt, soweit Datensicherheit, Wissenschaftlichkeit und Gemeinwohlinteressen gegeben sind.
transkript. Auf europäischer Ebene gilt für alle EU-Mitgliedstaaten gleichermaßen die Datenschutzgrundverordnung. Warum funktioniert die Datenvernetzung denn dann andernorts so gut und in Deutschland gar nicht?
Semler. Das ist eine schwierige und zugleich sehr wichtige Frage. Die europäische Datenschutzgrundverordnung (DSGVO) gestattet in Einzelstaaten für bestimmte Bereiche Regelungskompetenzen, die unterschiedlich genutzt werden und die in Deutschland insbesondere zum Weiterwirken der föderalen Gesetzgebung und föderierten Datenschutzaufsicht führen. Ohne hier ins Detail gehen zu können, ist zudem zu verzeichnen, dass bestimmte Sachverhalte von deutschen Behörden und der deutschen Fachöffentlichkeit offenbar anders beurteilt werden als in den Nachbarländern. Es bleibt daher ein wichtiger Handlungsauftrag, unsere gesetzlichen Rahmenbedingungen so zu gestalten, dass auf Basis des gleichen europäischen Datenschutzrechts gleicher Datenschutz und gleiche Datennutzung möglich wird.
transkript. Stichwort Zentralstelle für medizinische Register. In seinem Gutachten aus dem vergangenen Jahr hat der TMF e.V. vorgeschlagen, eine solche zu schaffen. Was soll sie leisten?
Semler. Unser Gutachten weist dieser vorgeschlagenen Zentralstelle – kurz: ZMR – eine Vielzahl von Aufgaben zu. In erster Linie soll sie eine Übersicht und Auffindbarkeit der medizinischen Register in Deutschland ermöglichen. Weiterhin soll sie zur Qualitätserhebung in den vorhandenen Registern beitragen und die Register in ihrer Qualitätsarbeit unterstützen – nicht zuletzt durch die Organisation eines Auditsystems. Und schließlich soll die Zentralstelle den Registern auch eine Stimme verleihen und im Zuge der Digitalisierung des deutschen Gesundheitssystems einen Anknüpfungspunkt darstellen – hierbei sind die Register nämlich bislang viel zu wenig sichtbar und vertreten. Zudem ist denkbar, dass Registrierung und Qualitätsnachweis in der Zentralstelle genutzt werden, um Erleichterungen beim Datenzugang zu schaffen, zum Beispiel zum Aktenabgleich mit der Dokumentation in der ärztlichen Versorgung. Alles in allem wäre die Zentralstelle also eine wichtige Instanz als Anlaufstelle und „Kümmererinstanz“.
transkript. Weshalb ist es wichtig, Register und Biobanken auch national zu betreiben?
Semler. Dieselbe Frage stellt sich für alle Forschungsinfrastrukturen und Datenbestände. Die Antwort ist einfach: zum einen ist dies essentiell für eine wettbewerbsfähige deutsche Medizinforschung, zum anderen sind Erkenntnisse aus Datenbeständen anderer Weltregionen und Völkern nur begrenzt auf die deutsche Population und Versorgungssituation zu übertragen. Je besser die hiesige Datenlage für Forschung und Entwicklung ist, desto besser für den hiesigen Patienten.
transkript. Dass der technische und administrative Aufwand kleiner werden sollte, damit man sich auf Forschungsfragen konzentrieren kann, ist plausibel. Wie steht es aber mit der Vergleichbarkeit der medizinischen Daten? Transkriptionsprofile etwa von Tumorzellen verändern sich nach Angaben des Hamburger Tumorbiobank-Betreibers Indivumed GmbH während der ersten
30 Minuten nach Entnahme grundlegend.
Semler. Dies ist eine grundsätzliche Herausforderung der Sekundärnutzung von Daten, also wenn man Daten zu einem anderen Zweck nutzt, als für den sie ursprünglich erhoben wurden. Wichtige Voraussetzung für Vergleichbarkeit ist Interoperabilität, eine definierte, standardisierte Beschreibung der Dateninhalte und Datenformate, einheitliche Qualitätssicherungsverfahren, Angaben zur Datengewinnung und Analytik sowie zur Datenherkunft, der sogenannten Data Provenance. Und nicht zu vergessen: der statistische Ausschnitt der Bürgerinnen und Bürger bzw. Patientinnen und Patienten, deren Daten man gerade betrachtet, muss genau bekannt sein, sonst kann dies zu erheblichen Fehlschlüssen führen.